Das Iliosakralgelenk: Mythen, Fakten und moderne Ansätze zur Schmerztherapie

 

Das Iliosakralgelenk (ISG) – eine Verbindung zwischen Kreuzbein und Becken – ist in der Medizin ein häufig diskutiertes Thema, insbesondere im Kontext von Rückenschmerzen. Obwohl das ISG oft als Ursache für Schmerzen im unteren Rückenbereich angesehen wird, wirft die aktuelle Forschung Fragen zur Diagnostik und Wirksamkeit einiger Behandlungsmethoden auf. Aussagen wie „Ihr ISG ist instabil“, „verschoben“ oder „blockiert“ hören viele Patient*innen, wenn sie ärztlichen oder therapeutischen Rat suchen. Doch wie viel Wahrheit steckt in solchen Diagnosen und was sagt die Wissenschaft dazu?

Das Iliosakralgelenk (kurz ISG) ist die Verbindung zwischen dem Kreuzbein (Sakrum) und dem Darmbein (Ilium). Es liegt im unteren Teil der Wirbelsäule, wo das Kreuzbein auf das Becken trifft. Das ISG spielt eine entscheidende Rolle bei der Übertragung von Kräften zwischen Oberkörper und Beinen und trägt zur Stabilität des Beckens bei. Die Beweglichkeit des ISG ist extrem eingeschränkt: Unter Belastung beträgt die Bewegungsfreiheit weniger als ein Grad, in unbelastetem Zustand bis zu 2,5 Grad. Zum Vergleich: Ein Hüftgelenk ermöglicht eine Beugung von bis zu 140 Grad. Es ist daher unplausibel, dass das ISG durch bloßes „Einrenken“ oder andere manuelle Maßnahmen nachhaltig in seiner Position verändert werden kann.

Diagnose und Therapiepraxis: Wie zuverlässig sind Befunde?

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass selbst erfahrene Fachleute Veränderungen oder Fehlstellungen des ISG weder erfühlen noch eindeutig diagnostizieren können. Tests, die angeblich Verschiebungen oder Blockaden des ISG identifizieren, weisen eine sehr geringe Übereinstimmung zwischen verschiedenen Untersuchenden auf. Verschiedene Therapeut*innen können bei derselben Person zu völlig unterschiedlichen Diagnosen gelangen.

Was oft als „Blockade“ oder „Fehlstellung“ interpretiert wird, ist auf Weichteilbewegungen oder veränderte Muskelaktivitäten infolge von Schmerzen zurückzuführen – nicht auf strukturelle Veränderungen des Gelenks. Diese Fehlinterpretation führt zu einer Verwechslung von Ursache und Wirkung.

Probleme bei der Diagnostik

Die gängigen Diagnostikverfahren, einschließlich klinischer Tests und bildgebender Verfahren wie MRT oder CT, sind in ihrer Aussagekraft begrenzt. Klinische Tests wie der Kompressionstest, der Patrick-Test oder der Gaenslen-Test haben eine eingeschränkte Zuverlässigkeit und leiden unter einer hohen Rate falsch-positiver und falsch-negativer Ergebnisse.

Bildgebende Verfahren zeigen zwar strukturelle Veränderungen, jedoch korrelieren diese nicht immer mit Schmerzen oder Dysfunktionen. Häufig finden sich bei beschwerdefreien Menschen ebenfalls Abnutzungserscheinungen oder Asymmetrien im ISG, was die Interpretation erschwert.

Hilfsmittel und Manipulation: Was wirklich dahinter steckt

Maßnahmen wie das Tragen eines Beckengurts oder Manipulationen zur „Deblockierung“ des ISG können kurzfristig Schmerzen lindern. Dies geschieht jedoch nicht durch eine Veränderung der Gelenkposition, sondern durch andere Mechanismen:

  • Beckengurt: Ein solcher Gurt kann die Muskelspannung reduzieren und dadurch Schmerzen lindern. Dies ist jedoch kein Beweis für eine Instabilität des ISG, ähnlich wie der Nutzen einer Kniebandage nicht zwangsläufig auf ein instabiles Knie hinweist.
  • Manipulation und Mobilisation: Diese Techniken entspannen Muskeln und können Schmerzsignale unterbrechen, jedoch wird die Position des ISG dadurch nicht verändert.

Was bedeuten ISG-Beschwerden wirklich?

ISG-Beschwerden sind ein Zeichen für eine Sensibilisierung der Beckenstrukturen, nicht für strukturelle Fehlfunktionen oder Schäden. Schmerzen und Sensibilität werden durch viele Faktoren beeinflusst, die über das Gelenk selbst hinausgehen, darunter:

  • Muskelverspannungen
  • Bewegungsmangel
  • Stress und Sorgen
  • Schlafmangel
  • Entzündungsprozesse

Die Vorstellung, das ISG sei „instabil“ oder müsse „deblockiert“ werden, kann Patient*innen verunsichern und ihre Genesung gefährden. Bewegungseinschränkungen und Angst, etwas falsch zu machen, führen oft zu einer Abwärtsspirale, die die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen kann.

Der moderne Ansatz in der Therapie

Die zeitgemäße Behandlung von ISG-Beschwerden konzentriert sich darauf, die individuellen Faktoren zu identifizieren, die zur Sensibilisierung beitragen, und diese gezielt anzugehen. Ziel ist es, den Betroffenen die Kontrolle über ihre Schmerzen zurückzugeben und sie dabei zu unterstützen, Vertrauen in ihren Körper und ihre Bewegungsfähigkeit wiederzuerlangen.

Effektive Maßnahmen können sein:

  • Regelmäßige, entspannte Bewegung
  • Positives Denken und Stressbewältigung
  • Ausreichend Schlaf
  • Individuell angepasste Übungen zur Förderung von Vertrauen in die eigene Beweglichkeit